Ralf Schuler: Der Siegeszug der Populisten

Populismus – ein Begriff, der in politischen Debatten häufig abwertend verwendet wird. Doch was steckt dahinter? Ist der Aufstieg populistischer Parteien eine Gefahr für die Demokratie oder vielmehr ein Ausdruck des Unmuts vieler Bürger über das etablierte politische System? Der Journalist Ralf Schuler analysiert in seinem Buch «Der Siegeszug der Populisten» dieses Phänomen und erklärt im Interview mit Dominik Klenk, warum viele Menschen sich von traditionellen Parteien abwenden. Ein Gespräch über Demokratie, Meinungsfreiheit und die Reaktion der politischen Eliten.

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Dominik Klenk: Sie haben jahrzehntelang die deutsche politische Landschaft beobachtet, waren viele Jahre bei der BILD-Zeitung als Leiter der Parlamentsredaktion unterwegs, und haben die Kanzlerin über Jahre hinweg als Journalist auf ihren beruflichen Reisen um die Welt begleitet. Als jener etablierte Beobachter haben Sie jetzt ein Buch vorgelegt, «Der Siegeszug der Populisten». Was genau ist denn Populismus? 

Ralf Schuler: [...] Wissenschaftlich gesehen ist Populismus eine Spielart der Politik, die die Legitimation vor allem aus dem Zuspruch durch das Volk bezieht. Dieser leitet sich ab aus einem Gemisch von formalen Aspekten, beispielsweise Wahlergebnissen oder charismatischen Persönlichkeiten und vom Zuspruch der Leute. Die einseitige Berufung auf den Rückhalt des Volkes wird in der Politikwissenschaft als Populismus bezeichnet.

Anfang der 2000er Jahre war der Österreicher Jörg Haider (FPÖ) so ein Phänomen, der alles niedergeklagt hat, was man ihm an Etiketten anhängen wollte. Am Ende blieb dann der diffuse Begriff «Rechtspopulist», den man juristisch nicht belangen konnte. Die Gerichte mussten das hinnehmen, weil die Bedeutung nicht so klar ist. Der Begriff ist in herabsetzender Weise gemeint und wird in negativer Absicht verwendet und hat sich so etabliert. Der Politikwissenschaftler Peter Graf von Kielmannsegg hat sehr klar analytisch gesagt, Populismus sei ein Bestandteil jeder Politik. Im Grunde genommen jeder demokratischen Politik, denn sie soll die Menschen vertreten und dementsprechend auch deren Interessen. Populismus ist nichts anderes als eine besonders intensive Berufung auf die Mehrheitsmeinung. Und dann gibt es Leute, die sagen, das seien viel zu einfache Antworten auf zu komplizierte Probleme. Aber schon Konrad Adenauer hat gesagt: «Manchmal müssen die komplizierten Sachen einfach ausgedrückt werden». Er selbst wurde auch der große «Vereinfacher» genannt – und das war nicht als Kompliment gemeint. Populismus ist im Kern eigentlich nichts Negatives, wird im Deutschen aber negativ verstanden. Inzwischen ist es ein Phänomen, was von Donald Trump bis hin zu der FPÖ, bis Le Pen oder Jair Bolsonaro in Argentinien angewandt wird, um Menschen im politischen Zirkus zu delegitimieren. Menschen, die besonderen Zuspruch durch die Massen bekommen, werden delegitimiert und emanzipieren sich vom etablierten Parteiensystem. Das finde ich ein ganz interessantes Phänomen, welt- und europaweit beleuchtet, denn die sogenannten «Populisten» sind auf dem Vormarsch – und das hat Gründe.

Das scheint ganz offensichtlich so zu sein. Es gab eine latente Stärkung der Kräfte, die man eher rechts verorten würde in Europa und vielleicht sogar auch weltweit. Gleichzeitig ist das Phänomen «Sarah Wagenknecht» nicht rechtsgelagert, sie wird aber als Populistin mit vereinnahmt. Was haben die etablierten Parteien versäumt in den vergangenen Jahren?

Sarah Wagenknecht ist ein ganz gutes Stichwort, denn es gibt natürlich auch Linkspopulismus. Der wird in der Regel nicht so häufig genannt, nicht so kritisch gesehen und meistens weggedrückt. In Griechenland oder in Spanien gab es eine vergleichbare Bewegung. In Deutschland hat die Linkspartei zum Beispiel mal plakatiert «Mieten runter, Löhne rauf!». Dabei obliegt es gar nicht der Politik, die Lohnpolitik zu gestalten und in das Vertragsrecht zwischen Mieter und Vermieter einzugreifen. Das ist zwar lupenreiner Populismus, wird aber auf dem linken Spektrum nicht großartig kritisiert. Vielleicht auch, weil Medien eine gewisse Geneigtheit gegenüber linkspopulären Thesen haben.

Das Interessante am Populismus ist, dass die Politiker eine intensive Rückbindung zu dem haben, was im Volk gesprochen wird. Sie greifen in der Regel Dinge auf, die im etablierten Parteienbetrieb liegen geblieben sind. Wir haben beispielsweise in der Europapolitik ein hohes Maß an Idealismus. [...] Das, was tatsächlich im Alltag der Menschen ankommt, ist nicht das Ideal, sondern es ist ein hohes Maß an Reglementierung oder Bevormundung. Die Populisten lassen sich vom Ideal nicht blenden, sondern sagen, dass sie nicht möchten, dass Brüssel darüber entscheidet, wie stark der Staubsauger saugt oder dass der Backofen plötzlich nicht mehr warm wird. Die europäischen Einsparverordnungen oder das Verbrenner-Aus werden dann in Abrede gestellt. So sind bestimmte Reflexe des intervierten Politikbetriebs, die nicht akzeptiert werden.

Wir müssen uns klar machen, dass der Populismus in Europa, beispielsweise in den Niederlanden, in Skandinavien, Belgien oder Frankreich deshalb so stark ist, weil Europa eine hoch verrechtlichte Wohlstandsregion ist und die demokratischen Prozesse zwar formal funktionieren, aber vielfach einfach nicht liefern, was sie liefern sollen. Es wird seit Jahren davon geredet, dass die Außengrenzen gesichert werden müssen. Sie können aber nicht gesichert werden, weil dann einstimmige Beschlüsse in Brüssel notwendig wären, weil einzelne Länder etwas haben gegen Frontex [Europäische Grenz- und Küstenwache, Anm. d. Red.], oder weil das Geld nicht reicht. Es gibt tausend Gründe, warum das nicht geht. Aber den Bürger interessieren die Gründe nicht. Er hat den Wunsch, die Grenzen zu schließen. Und das wird nicht geliefert.

Das andere Phänomen, bei dem Demokratie aus meiner Sicht ebenfalls versagt, ist, wenn 30 Prozent der Wähler nicht berücksichtigt werden, weil sie unerwünscht sind und aussortiert werden. Auch dann haben wir ein Demokratiedefizit. Der Wähler sieht natürlich nicht ein, dass diejenigen, die ohnehin an der Macht sind, auch noch darüber entscheiden sollen, wo die Denkzettel liegen und wo sie nicht abgegeben werden dürfen. Insofern haben wir ein doppeltes Demokratieversagen: einerseits Lieferschwierigkeiten bei den ganz praktischen Alltagsgeschichten und andererseits den Versuch, die Meinungsäußerung in Bahnen zu lenken, wie es der Macht genehm ist – und das wird natürlich nicht akzeptiert.

Jetzt noch mal mit dem Blick auf die Wahl in Sachsen und Thüringen im Herbst 2024. Viele befürchteten hier die Demokratie in Gefahr. Hat möglicherweise gegenüber dieser Ansicht der Bürger, der dort gewählt hat, in besonderer Weise seine demokratischen Rechte wahrgenommen? Ich glaube so eine hohe Wahlbeteiligung haben wir schon viele Jahrzehnte nicht mehr gesehen.

Das ist ganz offensichtlich der Fall. Die Demokratie ist nicht unter Druck, sondern sie ist in Gebrauch. Ich habe in meinem Buch auch ein extra Kapitel dem Missverständnis gewidmet, dass hier Demokratie abgeschafft werden soll. Demokratie ist das Staatskonstrukt, das verfassungsmäßige Haus sozusagen. Es ist nicht der Inhalt. Und diejenigen, die Demokratieabschaffung fürchten oder beschwören, die sehen lediglich ihre eigene Weltsicht davon schwimmen und unter Druck.

Aber die Demokratie ist gar nicht in Gefahr. Es gibt keine relevante Partei in Deutschland, die einen Systemwechsel anstrebt. Selbst die AfD strebt keine andere Staatsform an und nur das wäre ein Indiz dafür, dass die Demokratie gefährdet ist. Die AfD ist ein Profiteur der Demokratie. Nun gibt es die Argumentation, dass Hitler 1933 auch demokratisch an die Macht kam, zumindest mit den formalen Prozessen, und hat nach seiner Wahl das Land gleichgeschaltet. Das ist ein Vergleich, der so monströs ist, dass mehrere Historiker dagegen schon zu Felde gezogen sind, weil es den Nationalsozialismus verharmlost. Man muss sich klarmachen, dass die Nationalsozialisten den Reichstag angezündet,  die Parteien abgeschafft und das ganze Land gleichgeschaltet haben, und außerdem einen Weltkrieg und industriellen Massenmord begonnen. Das den handelnden Akteuren in der deutschen Politik das zu unterstellen, ist, glaube ich, abwegig. Insofern zieht dieser Vergleich nicht.

Es ist aus meiner Sicht tatsächlich so, dass die Demokratie in Deutschland mit vielen begrenzenden und korrigierenden Mechanismen funktioniert – selbst wenn jemand die AfD an der Macht beteiligen würde. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren schon sehr, sehr weise, sodass niemand dort «durchregieren» kann, wie es die Kanzlerin mal gesagt hat. Man kann allenfalls in einem Land eine Regierungsbeteiligung haben. Im Bundesrat wird man damit gar nicht durchdringen, weil dort andere Mehrheiten herrschen. Selbst, wenn jemand die absolute Mehrheit im Bund hätte, würden die Länder wieder machen, was sie wollen. Überall steht auch noch das Bundesverfassungsgericht dahinter. Die Allmacht, die der AfD unterstellt wird, kann also gar nicht ohne weiteres entwickelt werden. 

Würde man auf das schauen, was in anderen europäischen Ländern passiert, wo der ein oder andere Populist schon zur Regierungsverantwortung kam, dann würde man wahrscheinlich auch sehen, dass der Einstieg in die Realpolitik manches wieder entzaubert. Müssen wir die «Entzauberung» der Populisten – im Rahmen einer Verfassung, die man nicht schnell aus den Angeln heben kann – einfach mal erfahren?

Das ist absolut der Fall. Das ist genau das, was normale Demokratie ausmacht. Nicht die Wahlsprüche vorher, nicht die Plakatierung und die großen Töne, sondern die Alltagstauglichkeit. Was dieser eine Landrat kann, das würde beispielsweise mit Björn Höcke oder mit anderen Exponenten der AfD im Alltag als Landespartei genauso passieren. Das wäre der ganz normale Erfolg.

Eines muss man eben auch sagen: durch die Isolation der AfD hat sich dort ein Personenkreis zusammengefunden, der sehr stark in seiner Kontrapose eingerichtet ist, der sehr in der Wutpose zuhause ist und eben nicht jahrelange Praxis von Kommunalpolitik oder Landespolitik hat. Es ist zu erwarten, dass die Performance jetzt alles andere als glamourös ist. Man muss bedenken, dass selbst erfahrene Politiker in einem neuen Amt in der Bundes- oder Landesregierung durch die Gegend stolpern, bevor sie die Ministerien überhaupt einigermaßen leidlich führen können und die Spielregeln begriffen haben. Das würde der AfD ganz genauso gehen. Ich weiß natürlich, dass in Deutschland mit Blick auf die NS-Vergangenheit dort immer besonders heftig hingeschaut wird, wo nationale Töne angeschlagen werden. Und Björn Höcke in Thüringen jongliert natürlich sehr gern mit irgendwelchen Anklängen wie «tausend Jahre Deutschland», und jeder denkt an das tausendjährige Reich und ähnliche Geschichten. Da gibt es eine besondere Sensibilität und das ist sicherlich auch gut so, aber wir übertreiben es mal wieder. 

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